Prognoseentscheidung im Kinderschutzverfahren hinsichtlich einer fortbestehenden Kindeswohlgefährdung nach wahrscheinlichem Schütteltrauma

Leitsatz:
1. Wurden einem Kind durch einen Elternteil mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere gesundheitliche Schäden (hier in Gestalt eines sog. Schütteltraumas) zugefügt, so ist im Einzelfall zu prüfen, ob prognostisch erneut mit ähnlich schwerwiegenden Schäden zu rechnen ist. Selbst schwere Verletzungen müssen einer Rückführung nicht generell entgegenstehen, wenn eine hohe Prognosesicherheit dahingehend besteht, dass es nicht erneut zu derartigen Schäden kommt.


2. Wiegt der drohende Schaden für das Kindeswohl weniger schwer, so steigen für die Rechtfertigung einer Fortsetzung der Trennung des Kindes von seinen Eltern die an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellenden Anforderungen.


3. Für die Prognoseentscheidung ist auch von Bedeutung, ob das verbleibende Gefährdungsrisiko durch die äußeren Lebensbedingungen von Eltern und Kind – etwa in einer geeigneten Einrichtung – weiter minimiert, wenn nicht gar beseitigt werden kann. Dabei spielt auch die Bereitschaft der Eltern zur eigenen psychotherapeutischen Behandlung sowie zur umfassenden Kooperation im Rahmen stationärer und ambulanter Jugendhilfemaßnahmen eine Rolle.
Quelle: OLG Braunschweig, Beschluss vom 8. Mai 2024 – 1 UF 18/24 –, juris
Gegen diese Entscheidung des OLG erhob der Verfahrensbeistand des Kindes Verfassungsbeschwerde und machte einen Schutzanspruch des Kindes geltend. Er wollte erreichen, dass den Eltern das Sorgerecht entzogen wird, weil dem Kind bei ihnen weiterhin Verletzungen drohten.
Hiermit scheiterte der Verfahrensbeistand allerdings nicht nur vor dem OLG, sondern nun auch vor dem BVerfG (Beschl. v. 20.11.2024, Aktenzeichen: 1 BvR 1404/24).
Zur Begründung führte das BVerfG aus, dass Kinder zwar grundsätzlich einen Anspruch auf Schutz hätten, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung nicht gerecht würden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten könnten. Ob der Staat zum Schutz des Kindes allerdings eingreifen müsse und welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen seien, bestimme sich nach Art und Ausmaß der Gefahr für das Kind.
Entscheidend sei letztlich eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verletzung des Kindes. Das OLG hatte angenommen, künftig werde es nicht mehr zu solchen Situationen kommen, die das Schütteln ausgelöst hatten. Das Kind sei mittlerweile zwei Jahre alt und schlafe nachts durch.
Entsprechendes gelte auch für die Prognose des OLG, wonach mögliche zukünftige körperliche Übergriffe der Eltern gegen ihr Kind voraussichtlich keine derart schwerwiegenden Folgen wie das Schütteln eines Säuglings hätten. Überzeugt ist das BVerfG schließlich davon, dass der gemeinsame Aufenthalt in der Eltern-Kind-Einrichtung hinreichenden Schutz vor körperlichen Misshandlungen bietet. Auch dies habe das OLG richtig gewürdigt. Es habe sich dabei auf "Erkenntnisse fachlich Beteiligter" stützen können, vor allem auf Berichte der ersten Eltern-Kind-Einrichtung, in der Eltern und Kind zwischenzeitlich gelebt hatten.
Die Zusammenarbeit mit den Eltern sei als durchweg positiv beschrieben worden. Außerdem soll eine enge und liebevolle Eltern-Kind-Beziehung sowie eine bedürfnisgerechte Versorgung und das Fehlen von kindeswohlgefährdenden Situationen beobachtet worden sein, so das BVerfG.


Quelle: Legal Tribune Online, 13.12.2024, https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bverfg-1bvr-140424-sorgerecht-misshandlung-kind-eltern-schuetteltrauma-baby
© 2025 Welter & Roth
chevron-down